So wird der Restaurantbesuch zum Erlebnis: Spitzenköche bieten Tische direkt in der Küche an

Von Jürg Ackermann
Tagblatt – 8. August 2020

«Ich habe das Fleisch in den Ofen geschoben», sagt Agron Lleshi und schaut zu seinen Mitarbeitern. «Und Tisch 3 hat zur Vorspeise den Pulpo-Brotsalat mit Rucola bestellt.» Lleshi, der 34-jährige Gastgeber im St.Galler «Jägerhof», ist der Dirigent in der Küche, doch laute Kommandos braucht er keine. Nur kurz hingeworfene Bemerkungen, die alles in Gang setzen.
Dort wird eine Sauce gemixt, hier ein Teller sorgfältig assortiert. Es dampft und gart. Und wir am Küchentisch bekommen alles mit. Es ist ein bisschen wie im Theater oder im Konzert in der ersten Reihe, wo man den Künstlern während des Auftritts von ganz nah zusehen kann. Das dreiköpfige Team, das an diesem Abend an den Herdplatten steht, scheint eingespielt, jeder Handgriff sitzt.

Den Küchentisch mag Lleshi besonders. Das Konzept, dass Gäste (nach Reservation und zu einem speziellen Preis) im Herz des Restaurants essen und den Köchen wortwörtlich in die Töpfe schauen können, passt zu ihm. Manchmal kommen Freunde vorbei, die er schon lange nicht mehr gesehen hat und die ihm bei der Arbeit zuzuschauen und über früher reden wollen.
Er geniesst den engen Kontakt zu seinen Gästen sichtlich, kaum eine Frage ist ihm lästig. Und davon gibt es an diesem Abend viele: Wie gewinnt er die Essenz der Frühlingszwiebel? Warum kombiniert er einen gebeizten Gin-Saibling mit Gurkensalat? Warum schmeckt die nur kurz gewärmte Jakobsmuschel so intensiv? Wie kommt man auf die Idee, eine Tomatenpannacotta mit Basilikumsorbet als «Gruss aus der Küche» oder ein «gebackenes Ei im Brotmantel» zu servieren? Wie schafft man es, stets auf diesem Niveau zu kochen?

Manchmal kommt die Inspiration in einem Schuhgeschäft
Irgendwann nach dem sechsten Gang wird klar: In der Spitzengastronomie gibt es keine Zufälle und was leicht daherkommt, ist Knochenarbeit.
Lleshi liest zur Inspiration auch einmal Kochbücher, doch 1:1 kopiere er ein Rezept nie, erzählt er. Er nimmt sie als Ausgangspunkt, verändert ein paar Komponenten und kombiniert sie zu etwas Neuem, Eigenem. Manchmal kommt die Inspiration auch uner­wartet. Die als vierten Gang servierten Taleggio-Ravioli, die durch einen heimischen Pinot noir wunderbar abgerundet wurden, sind konstruiert wie geflochtene Schuhe, deren Ästhetik er einst in einem Geschäft entdeckte.
Der «Jägerhof» in St.Gallen ist so etwas wie das zweite Zuhause von Lleshi. Der gebürtige Kosovare und vierfache Familienvater hat hier schon die Lehre absolviert und jahrelang als Küchenchef unter seiner Vorgängerin Vreni Giger gekocht.
Vor vier Jahren übernahm er das Lokal – und legte einen der steilsten Aufstiege in der Schweizer Gastronomie hin. 2017 wurde er von Gault-Millau mit 15 Punkten ausgezeichnet, 2018 und 2019 kamen je ein weiterer Punkt dazu. Im letzten Jahr gab es zu den 17 Gault-Millau-Punkten einen Michelin-Stern. Der «Jägerhof» ist damit eines der Aushängeschilder im kulinarischen Hotspot St.Gallen. Die Stadt allein zählt zehn Lokale, die im Gault-Millau figurieren, zwei davon haben 17 Punkte und mehr.

Manchmal machen ein paar ­Tropfen Aceto den Unterschied
Doch zurück in die Küche. Eigentlich hatten wir uns vorgestellt, dass es hier laut und hektisch zugeht, ständig nach Gekochtem riecht, auch mal das Fett spritzt und geflucht wird. Doch selbst gegen Ende des Abends sieht es noch fast blitzblank aus. Und die Atmosphäre ist entspannt, obwohl das Restaurant gut besetzt ist.
Das hat mit dem eingespielten Team zu tun: Lleshi, sein Stellvertreter Stefan Wagenknecht und Chef de Service Melanie Fink habe trotz ihres jungen Alters schon viel Erfahrung in der Gastronomie. Entscheidend sind jedoch auch die eingespielten Abläufe: Speisen wie Suppen oder Pouletpralinen sind vorbereitet, der Safranrisotto zu den Meeresfrüchten zu zwei Drittel vorgekocht. Dennoch bleibt Spitzengastronomie ein hartes Business. Trotz der stolzen Preise sind die Margen klein, die Arbeitstage lang. Wer nachlässt, ist schnell weg vom Fenster. Das weiss Lleshi. Sorgen macht er sich deswegen keine. Er hält sich an die simplen Devisen und erklärt: «Man muss einfach kochen, damit die Speisen ihren Geschmack entfalten.»

Manchmal sind es ein paar Tropfen weissen Aceto, die den Kick geben, manchmal auch nur die schonungsvolle Zubereitung oder ein paar Prisen Salz oder Zucker, die dem Fleisch, dem Fisch oder dem Gemüse zu kleinen Geschmacksexplosionen im Gaumen verhelfen.
«Spitzengastronomie ist vor allem Teamwork. Wir haben uns heute Abend nicht verstellt und uns in der Küche so verhalten wie immer», sagt Lleshi zum Abschied, als wir nach dem siebten Gang (Beeren-Schoggi-Champagner- Glace) und einem über vierstündigen Erlebnisessen die Küche euphorisiert verlassen. Man glaubt es ihm.
So wie die Erkenntnis, die noch lange später gilt: So schön die Speisen anzusehen sind, am Schluss bleibt vor allem die kulinarische Erinnerung an Geschmäcker und Düfte. Wochen später sind sie noch präsent. Als stünde die Tomatenpannacotta mit Basilikumsorbet vor einem.